Wenn Erinnerungen wieder lebendig werden

Von Thomas Schürmann20. Mai 2024 UEF

Das Reisen mit dem Zug hatte einmal eine Bedeutung, die über das einfache Fahren von A nach B hinaus ging. Mit dieser Art des Reisens sind schöne Erinnerungen verbunden, z. B. an schöne Gespräche in Abteilen, den Fahrtwind, wenn man in einem der goldenen Sommer den Kopf aus dem Fenster streckte.

Schwarz-weiß Aufnahme eines leicht in der Kurve stehender Zuges, von dem man zwei Wagen jeweils zur Hälfte sieht. Im Vordergrund schaut eine Frau aus dem geöffneten Zugfenster.
Zugreisen in den 50er Jahren. Die Mutter des Autors reiste in dieser Zeit und noch später häufig nach Berchtesgaden. Auf diesem Foto wahrscheinlich zum Abschied. Foto: O. Schürmann

»Aber nun kam der Zug. Auf dem großen gänzenden Geleisbogen, eine halbe Meile außerhalb des Bahnhofs, kam der riesenhafte schwarze Rüssel der Lokomotive in Sicht, und durch die golddurchstäubte Luft des warmen Herbstnachmittages sahen sie den Zug kommen, hörten ihn mit kurzen Fauchstößen und rhythmischen Gerumpel herandonnern und verstummten mit furchtsamen, verzückten, sorgenschweren Herzen. (...) Die Lokomotive schnaubte heran, sie brauste, ein Ungeheuer, vorbei ... in Manneshöhe arbeitete das furchtbare Stoßwerk der acht Kolbenstangen ... auf eine Sekunde stand der Maschinist da, die behandschuhte Hand am Drosselventil ... Schaltvorrichtungen und blanke Maschinenteile blitzten auf ... aus der Heizlike schoß eine wüste Flackerflamme ... aus dem Schlauch des Ablassventils zischte scharf der dicke Dampf.

Thomas Wolfe, Von Zeit und Strom, Rowohlt 1952.

Das schrieb Thomas Wolfe 1932. Diese Zeilen blieben mir lange in Erinnerung, gelingt es Wolfe doch eindrücklich das Erlebnis eines einfahrenden Dampfzuges in poetische Worte zu kleiden, die bei uns Erinnerungen hervorrufen. Beim Lesen haben wir Bilder, Geräusche und Gerüche in allen Sinnen, so fassbar erscheint uns seine Beschreibung. Dampfmaschinen gelingt es wie wenigen anderen Errungenschaften der Ingenieure Kraft und Energie sinnlich zu erfahren. Das ernsthafte Schwarz, in das alles gekleidet ist, der heiße Dampf, der ihnen aus allen Rohren quillt. Überall Chrom und GLanz ebenso wie Dreck und Schmiere, das man gerne selbst polieren und putzen mag. Dann der ungeheure Lärm, das Puffen und Knarzen, das Kreischen und Quietschen - alles steht gebändigt unter Druck und enfaltet sich beim Anfahren in einen ekstatischen Lärm. Schnauben, Stöhnen, Puffen, Stoßen, Rauchen, Quietschen, Schnauben, Ächzen ... und dann bewegt sich der Zug und der ganze Lärm geht in ein musikalisches rhythmisches Stampfen über, das im Gleichklang mit unseren Herzen zu schlagen scheint.

Und selbst so viele Jahre nach dem aktiven Dienst ziehen die Dampflokomotiven und die von ihnen gezogenen historischen Züge uns weiterhin in ihren Bann. 

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Der Schweizer Doktorand Johannes Hofer (1669 – 1752) war es, der unserem sehnsüchtigem Gefühl nach einer Zeit, die es so wohl nie wirklich gab, einen Namen gab: Nostalgie. Er leitete es vom lateinischen Wort für Heimweh ab und stufte es als behandlungswürdige Krankheit ein. Grund für seine Arbeit war die Sehnsucht der Schweizer Söldner nach der Heimat. Und irgendwie sind es doch diese Gefühle, die uns im Jetzt - also im Heute umtreiben - in dem wir uns in einer knopf- und hebellosen, leisen, digitalen Welt nach etwas sehnen, das wir einfach verstehen können. Ein Ausgleich, zu einer Welt, in der Handarbeit und mit Händen schaffen immer mehr an Bedeutung verliert. 

Auch das Reisen hat sich unglaublich verändert. Angefangen mit einer fahrschein- und fahrkartenlosen Welt, weiter zu einer Bahn, nach der man möglichst keine Uhr mehr stellen möchte. Nach einer Art des Reisens, die vielleicht etwas länger dauerte, aber einfach schöner, kommoder und irgendwie eleganter war. Durchgehende Züge in denen man auf bequemen Polstern und nicht in Schalensitzen saß, Züge, aus denen man bei geöffneten Fenstern nach Vorne schauen konnte - in das Kommende. Den Blick auf den Ort in der Ferne, und bei Heimkehr auf das geliebte Zuhause gerichtet.

Das Bild im Beitrag zeigt meine Mutter in jungen Jahren, wie sie meinen, damals wahrscheinlich ebenso jungenhaften Vater, in Berchtesgaden besuchte. Hierhin fuhr er, nach einer schweren kriegsbedingten Lungentuberkulose, regelmäßig zur Kur. Ich stelle mir vor, wie sie mit dem Zug aus München die letzten Kilometer fährt, am Schluss durch das Reichenhaller Becken an der Saalach entlang; dann noch ein kurzer Halt in der Salz- und Solestadt Bad Reichenhall. Der Schaffner pfeift nun im Bahnhof unter dem mächtigen Predigtstuhl seinen letzten Abfahrtspfiff und schon geht es mit Volldampf die abschließenden 236 Höhenmeter zum 1888 erschlossenen Bahnhof von Berchtesgaden hinauf. Ich stelle mir vor, wie sie erwartungsvoll aus dem Fenster schaut, es womöglich an dem warmen Sommertag nach unten schiebt. Der Zug ist pünktlich. Abends zuvor hatten sie vielleicht telefoniert, er hatte versprochen sie abzuholen. Die Vorfreude ist ihrem Gesicht nun deutlich anzusehen. Und die glücklichen Erwartungen ebenso. Wird sie meinen Vater auf dem Bahnsteig entdecken? Sie hebt ihren kleinen Reisekoffer von den goldfarben lackierten Ablagen herunter, wobei ihr eine freundliche ältere Dame in Trachtenkleidung zur Hilfe kommen möchte, dann stellt sie sich, wie wahrscheinlich jeder zu dieser Zeit auf den schmalen Absatz über der die Abteile entlanglaufenden Heizung und streckt weit der Kopf aus dem Fenster. Tief atmet sie die spätnachmittägliche Frische ein, ein abkühlender Luftzug weht vom Königssee herüber. 

Quietschend kommt der Zug zum stehen und freudig drängelt sie hinter den anderen aussteigenden Passagieren auf den Bahnsteig hinunter. Während hinten der Schaffner von innen den Gepäckwagen öffnet und das Gepäck von zahlreichen Händen auf die Gepäckkarren verladen, findet meine Mutter in die Arme meines Vaters.

Ankommen und abholen, das gehörte für mich immer zum Reisen mit der Bahn dazu. Wenn jemand lange Zeit fort oder auf Reisen war, dann holte man die Person freudig vom Bahnhof ab. Das kurze Warten auf dem Bahnsteig war verbunden mit der Hoffnung auf die Heimkehr des Verreisten oder die Ankunft des Anreisenden. Was würde der Besuch mitbringen? Geschenke oder schöne Geschichten? Gleiches galt für die Heimkehrer aus der Ferne. Wie würden sie oder er aussehen? Stark verändert? 

Wir können es uns heute nicht mehr vorstellen, wo ja auch die Ankunftspläne nun mehr gänzlich abgeschafft werden, dass man einmal jemand um 18 Uhr 55 vom Bahnhof abholte, um 18 Uhr 52 am Bahnhof ankam, und dann um 18 Uhr 55 pünktlich auf die Minute der Zug schnaufend und quietschend einfuhr und sich mit einem satten Klappen und Klappern die Türen öffneten.

Ebenso spannend sind und waren die Abschiede. Meine heutige Frau kam in den 1980er Jahren immer mit dem Zug aus Karlsruhe und fuhr – möglichst – mit dem letzten Zug am Sonntagabend wieder nach Hause. Der japanische Künstler und Buchautor Sōseki Natsume schrieb in sein Graskissenbuch, dass ein Eisenbahnzug keine Anhänglichkeit kenne.  »›Achtung, er fährt ab!‹, rief eine Stimme, und unmittelbar darauf setzte sich der Eisenbahnzug, der keine Anhänglichkeit kennt, langsam in Bewegung, indem er seinen stampfenden Rhythmus aufnahm.« (Natsume, 1906) 

In meinem Leben ertönte der Pfiff, vorne in der Schnellzuglok hörte ich die Schütze klackern und mit einem schönen sanften Jaulen der E-Motoren fuhr die Lok an und mit dem Zug meine Freundin davon. Mit ihr ein Teil der schönen Gefühle und Erinnerungen. Wenn der Bahnsteig frei war, legte ich die Hand an ihr Fenster oder nahm sie sogar, wenn sie einen Fensterplatz hatte und rannte ein Stück weit mit; so lange und auf dem gekrümmten Bahnsteig so weit, bis der Zug so schnell war, dass ich nicht mehr mithalten konnte. Dann winkte ich nach Luft japsend nur noch, bis der Zug sich leider, so ist es auf Gleis 1 in Wuppertal, in die Linkskurve legte und meine Freundin und ihre ebenfalls winkende Hand aus dem Sichtfeld verschwand.

Erinnerungen an eine schöne Zeit.

Mit dem historischen Dampfschnellzug werden diese Erinnerungen wieder lebendig – ob als Fahrgast und Mitreisender, ob nur beim Betrachten des schönen Bilder, als Unterstützer aktiv im Verein oder als ideeler oder finanzieller Unterstützer. 

Durch das Miterinnern oder sogar mitwirken wird diese Zeit vor unseren Augen wieder lebendig.

 

Quellen:

Wolfe, Thomas : Von Zeit und Strom, Rowohlt Verlag, Hamburg 1952.

Soseki, Natsume, Langemann, Christoph (Übers.) : Das Graskissenbuch. be.bra verlag, Berlin 2020.